Lauftandems beim Berliner Halbmarathon - Erlebnisbericht von Martin

  19.04.2023

Wir sind nicht allein!

So oder so ähnlich hatten uns unsere Guides, Petra, Jens und  Daniel in Kurzform die Umstände des Laufs beschrieben, zu dem wir gerade unterwegs waren, dem berühmten Berliner Halbmarathon. Der Lauf war der vorläufige Höhepunkt des Liwa-Lauftandem-Projekts des Vereins und daher quasi obligatorisch. Obwohl wir uns anfangs nur zögerlich dafür begeistern konnten, mit rund 30.000 anderen Läufern einen Halbmarathon zu bestreiten, war allen klar, dass de Fakto kein Weg daran vorbeiführte. Allein die Dimensionen der Veranstaltung und der Name des Laufs, bei dem alle, denen wir davon erzählten, nur ein erstauntes Oh ausstießen, ließen uns aber immer neugieriger werden und sorgten gegen Ende März hin sogar für eine Art Lampenfieber, dem auch wir uns nicht völlig entziehen konnten.

Der Einlauf auf das Startgelände, den Tiergarten, war höchst beeindruckend. Schon die S/U-Bahnen auf den Weg dorthin waren voller Läufer gewesen,  Läufer, Läufer, wohin das Auge reichte, alles voller Menschen. Was jetzt in den Startbereich einfiel, war eine breite Flut von Menschen, die sich bald zu kleinen Inseln sammelte, bald in breiten Hauptströmen zu den LKWs floss, die unsere Kleidung aufnehmen sollten, sich bald in kleinen Korridoren warmlief. Wir waren einfach nicht alleine, es waren rund 34600 Läufer aus 131 Nationen, mit denen wir zusammen bei erfrischend windigen 5°C auf dem Startgelände bibberten. Dann kam der fieseste Augenblick: Wir mussten uns von unseren Jacken trennen und nur noch im Laufzeug die restlichen paar hundert Meter bis zum Start gehen. Einmal mehr wurden wir ahnungslosen Debütanten von unseren erfahrenen Guides gerettet, indem sie nämlich Plastikponchos irgendwoher zauberten, die zumindest mal den verfluchten Wind abhielten. Wären meine Arme zu diesem Zeitpunkt nicht schon steif wie Fahnenstangen gewesen, hätte ich meinen Guide Petra dafür gerne umarmt. Das Zeug war zwar unmöglich anzusehen, aber ebenso unglaublich in seiner Wirkung. Wir warfen die wohltuende Erdölhülle wie einen Bremsfallschirm ab, als sich unser Startblock in Bewegung setzte und wir über die Kontrollmatten der Startlinie liefen. Kaum war mir klar, dass der Lauf nun endlich begonnen hatte, denn immer noch waren wir in einer unglaublichen Menschenmasse unterwegs, die sich nun einfach etwas schneller fortbewegte. Langsam aber sicher entzerrte sich aber das Feld. Wir liefen in den ersten fünf Kilometern ein ordentliches Tempo, gegen das ich nichts hatte, weil mir immer noch kalt war. Ohne auch nur einmal auf Ihre Uhr geschaut zu haben, sagte Petra, dass wir langsam tun sollten, wir wären einige Sekunden über unserer Zeit und dieses Tempo könnte uns auf Dauer Schwierigkeiten machen. Ich rechnete ihr es hoch an, dass sie „uns“ sagte und nicht „dir“, was eigentlich die Wahrheit gewesen wäre. Für Petra war diese Veranstaltung wohl ungefähr das, was für mich der nächtliche Gang zur Toilette war und trotzdem, so war zumindest mein Eindruck, fand sie Spaß daran. Wir wussten beide, dass wir Stadtläufe nicht gerne mochten, genossen aber mehr und mehr die Stimmung, die sich um uns herum erhob. Es gab Bands, mehr als ich zählen konnte, mit den verschiedensten instrumentalen Schwerpunkten und Musikrichtungen, einzelne Menschen, die die Läufer mit Klingeln oder Rasseln anfeuerten und freistehende Grüppchen, die klatschend und rufend ihrer Begeisterung Luft machten. Langsam gewöhnte ich mich an diesen stetigen, mal anschwellenden, mal abebbenden Klangteppich aus Musik, Rufen und Applaus und lief wie in einer Art hypnotischen Trance, lauf, lauf, lauf, wie das Ticken einer Uhr. Hin und wieder befahl ich meinem Körper, brav zu lächeln und den Daumen hochzurecken, wenn jemand meinen Namen rief, der vorne auf meiner Startnummer prangte und wenn die Bands besonders originell waren – eine Band schlug z.B. wie besessen auf eine Art Ölfass ein, eine andere Gruppe spielte entspannenden Reggae. In solchen Momenten fand ich wieder voll in die Wirklichkeit zurück, aber das meiste zog als Film an mir vorbei. „Wieder eine Spitzkehre in 50 Metern“, sagte Petra, und unterbrach so meinen kleinen privaten Film. Dann wurde es wieder freier, die Straßen breiter und die Massen flossen wieder auseinander. In meinen Film kamen prominente Bauwerke und Plätze hinein „jetzt laufen wir an der Gedächtniskirche vorbei“ … „KDW rechts 20 Meter voraus“ …“Potsdamer Platz auf 11 Uhr in 100 Metern“ … „Checkpoint Charlie in 3, 2, 1, jetzt“, so ging es Schlag auf Schlag. Unsere "Navies" (Guides), das war uns allen klar, leisteten Schwerstarbeit, auch wenn es von außen locker aussah. Sie hatten schließlich nicht nur auf uns, sondern auch, und wie sie nicht müde wurden zu betonen, vor allem auf die anderen Läufer zu achten. Tatsächlich glaube ich, dass unsere Guides bei diesem Lauf zu tun hatten wie die einarmigen Tapezierer. Ich weiß nicht, wie viele begeisterte Zurufe wir und unsere Guides an diesem Tag bekamen, aber es waren verdammt viele!  Als wir über den Kudamm liefen, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass wir vielleicht sogar eine ordentliche Zeit laufen würden. Mein lebendes Metronom neben mir hätte ich bestimmt danach fragen können, aber irgendwie war die Zeit bei einem solchen Lauf auch zweitrangig.          
Als wir uns dem Brandenburger Tor via Siegessäule näherten, wurde das Gedränge wieder dichter, die Zuschauer waren euphorischer, die letzten Bands treibender und der Applaus schwoll an. Hinzu kamen Lautsprecherdurchsagen und die Musik der Veranstalter, die ihr übriges taten, um diesen Zieleinlauf zu einem bewegenden Moment werden zu lassen, und das war er durchaus.
Nachdem wir über die Zielmatten gelaufen waren, bekamen wir drei Dinge: Sonne in zumindest ausreichenden Mengen, einen weiteren Plastikponcho,  und die „ich war dabei-Medaille“ in Untertassengröße, und alles davon war richtig gut.
Nach dem obligatorischen Zielfoto, auf dem wir in voller Plastikpracht posierten, im Hintergrund den Reichstag, drängte es uns zu den LKWs mit unseren Kleidern, dann zu den Ausgängen und der Dusche im Hotel.
Im Restaurant Julchen Hoppe füllten wir am Abend alle gemeinsam die verbrauchten Laufkalorien wieder auf.
Einig waren wir uns alle darin, dass es ein wirklich außergewöhnlicher Höhepunkt eines noch außergewöhnlichen Projektes war.
Ob wir so etwas noch einmal machen würden? Schauen wir mal, hat der Blinde gesagt.

Martin

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