Im LIWA-LaufTandem einmal blind rund um Stuttgart

  24.11.2024
Unser blinder Läufer Pierre Heim lief beim RunMob Rössleweg seinen ersten Ultra-Marathon

Jährlich am Totensonntag im November trifft sich ein sogenannter RunMob am Bahnhof in Stuttgart-Obertürkheim, um von dort aus den Rössle-Wanderweg rund um Stuttgart abzulaufen. Der Rössleweg ist ungefähr 57 Kilometer weit und führt gut ausgeschildert, einmal rundherum um den Stuttgarter Kessel. Durch das ständige Auf und Ab sind dabei auch ordentliche 1.300 Höhenmeter zu bewältigen.

Es handelt sich dabei um keinen dieser offiziellen oder ausgeschriebenen Wettkämpfe, sondern es ist ein selbstorganisierter Lauf mit zahlreichen Freunden und Bekannten aus der Ultra-Marathon Läufer Szene. Man kennt den Termin, man kennt den Ort und die Strecke ist eh ausgeschildert. Es wird paarweise oder in kleineren Gruppen gelaufen, die meisten dabei ohne Ambitionen unbedingt schneller sein zu müssen als die anderen. Es gibt keine harten Cut-Off Zeiten. Verpflegungsstellen sind dabei nicht offiziell eingeplant, doch wird man auf der Runde immer mal wieder von weiteren Freunden oder Bekannten mit einem kleinen gern angenommen Angebot überrascht. Ein RunMob eben, der mittlerweile weit über 100 Teilnehmer anlockt. 

In diesem Jahr erstmals mit am Start war auch einer von unseren blinden Läufern. Pierre wollte im Tandem mit Kalle seinen ersten Ultra-Marathon laufen. Für Pierre gleich in doppelter Hinsicht eine neue Dimension. Er ist zwar erst vor ein paar Wochen Deutscher Meister im Para-Marathon geworden, doch nie war er weiter als die klassische Distanz von 42,2 Kilometern gelaufen und auch mehr als 700 Höhenmeter hatte er am Stück noch nie bewältigt.  Die Herausforderung dabei war nicht nur die Distanz, sondern auch das unbekannte Terrain. Die blinden Athleten bevorzugen möglichst barrierefreie Wege, auf dem Rössleweg jedoch gibt es ständig wechselnde Untergründe. Asphalt, Pflastersteine, Treppen, Feldwege, Wald- und Wiesenböden und Singletrails wechseln sich ständig ab. Da ist alles dabei, was einen blinden Menschen schon beim normalen Spazierengehen herausfordert.  Und das Ganze jetzt auch noch im Rennmodus und über mehrere Stunden hinweg. Und es sollte dann auch tatsächlich ein extremer Tag werden.  

Die Rössle Höhenwanderweg führt vom S-Bahnhof in Obertürkheim im Uhrzeigersinn über Hedelfingen, hoch zum Frauenkopf bis zum Fernsehturm nach Degerloch . Weiter geht’s durch das Kaltental in den Dachswald hinauf zum Birkenkopf, besser bekannt als Monte Scherbelino. Durch den Krähenwald läuft man hinunter ins Feuerbacher Tal bis nach Weilimdorf und Zuffenhausen. Über die Weinberge kommt man am Robert-Bosch-Krankenhaus vorbei und etwas später erreicht man den Neckar beim Max-Eyth-See. Etwas wellig geht es dann über Bad-Cannstatt und Luginsland bis zum finalen, aber nochmal sehr kräftezehrenden Aufstieg hoch zur Grabkapelle auf den Württemberg. Dort einmal um die Kapelle herum und wieder runter auf die letzten Kilometer, durch die Weinberge zurück zum Ausgangspunkt in Obertürkheim.  

Das trockene und nicht allzu kalte Wetter an diesem Tag sorgte schon vor dem Start für eine gute Stimmung. Anfangs überwiegend trockene Beläge sorgen für eine gewisse Sicherheit. Als dann die ersten Abschnitte mit viel Laub bedeckten Waldwege und Trails folgten, war vom Guide höchste Konzentration gefordert, um dem Schützling möglichst stolper- und sturzfrei durch diese Passagen zu leiten. Auch wenn man schon ein eingespieltes Team ist und der Blinde den Hinweisen seines Guides maximal vertraut, schaltet dann doch der Kopf unterschwellig einen zusätzlichen Schutzmechanismus ein. Ganz besonders in einer Gegend in der man zuvor noch nie gelaufen ist und mit dem Wissen, dass es noch ewig so weitergehen wird. Die Aufgabe für den Guide ist groß.
Auf dem ersten Drittel bis hoch auf den Birkenkopf lief alles ohne größere Probleme. Das Tempo war so gewählt, dass man gegen Ende des Laufs noch ausreichend Körner haben sollte. Was gelaufen werden konnte wurde gelaufen, wo gehen die sicherere Option war, wurde gegangen. Nach ca. 35 Kilometern deutete sich bei Pierre ein erster Wadenkrampf an. Leider etwas früh als Folge der bisherigen Belastung, aber vermutlich auch aus der insgesamt körperlich höheren Anspannung. Natürlich wurden gleich Maßnahmen eingeleitet, um den Krampf zu bekämpfen. Doch wenn man anfängt auf der einen Seite zu entlasten, holt man sich naturgemäß auf der anderen Seite ein zusätzliches Problem ein. Und so war es dann auch bei Pierre. Gehphasen und notwendige Pausen wurden länger. Nach der Marathondistanz hatte man auch schon gut 1.000 Höhenmeter auf der Uhr. Es waren ja noch ein paar Kilometer zu Laufen und als Highlight der Strecke die Runde um die Grabkapelle herum zu meistern.  Und was hoch geht, muss auch wieder nach unten gelaufen werden. Das mochte Pierre`s Muskulatur mittlerweile gar nicht mehr mitmachen. Zu ungewohnt und letztlich vielleicht auch zu wenig trainiert. Und dennoch war Aufgeben für Pierre zu keinem Zeitpunkt eine Option. Also ging es im Run & Walk Modus weiter, wobei sich die Anteile deutlich in Richtung Walk verschoben. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erklommen die beiden den Württemberg. Die Runde um die Kapelle war ein Muss.
Danach ging es dann fast schon kitschig in den Sonnenuntergang hinein, zurück durch die Weinberge nach Obertürkheim. Die endlosen Treppenabgänge im Weinberg erforderten von beiden nochmal maximale Konzentration. Dann war es geschafft. Nach langen 9 Stunden und 20 Minuten erreichten die beiden wieder den Ausgangspunkt am Bahnhof in Obertürkheim und wurden dort von ihrem Team mit viel Beifall empfangen.
Das war nicht nur eine körperliche, sondern auch eine maximale mentale Meisterleistung des Lauftandems Pierre & Kalle. Inklusion ist, wenn man es macht und nicht nur darüber redet.

Neben Pierre & Kalle bereicherten noch weitere Lichtenwalder Läuferinnen und Läufer diesen RunMob. Am schnellsten unterwegs war Wolfgang Hohlbauch mit einer Laufzeit von 6:21 Stunden. Ebenfalls auf der Strecke waren  Jürgen Weinrauch, Walter Krohn und Leander Schade (je 7:16 Std.); Cinzia Zeltenhammer und Gunther Krapf (je 7:23 Std.); Rolf Schwarz (8:01 Std.) sowie Bernhard Bucher und Jörg Schneider (je 9:56 Std.)

Das Rössle Video gefilmt von Jürgen Weinrauch kannst du hier ansehen → Link 

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