Bottwartal Marathon - Pierres Halbmarathon Premiere

  13.11.2022

Zugegeben, ganz geheuer war mir diese Sache immer noch nicht. Gemeinsam mit vielen Anderen saß ich an einem grauen Sonntagmorgen in einem Bus, der uns zum Startbereich des Bottwartal-Halbmarathon bringen sollte. Ringsherum gab es entspannte Gespräche, wer wo schon wie oft auf der Welt gelaufen ist, über die heutige Streckenführung und den letzten Urlaub. Alles erfahrene Läufer und Läuferinnen eben, die einfach einen weiteren Wettbewerb bestritten. Und ich mittendrin, der blutige Anfänger auf dem Weg zu seinem ersten Halbmarathon, dessen Laufkarriere bisher im Wesentlichen aus gelegentliche Sprints an den Bahnsteigen des Stuttgarter Hauptbahnhofs bestand. worauf hatte ich mich da nur eingelassen?

Mehr als 21 Kilometer lagen vor mir. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese weite Distanz überhaupt schaffen würde und hatte auch ziemlich Respekt vor der unbekannten Strecke. Na gut, dieses Gefühl hat vermutlich jeder bei der ersten Laufveranstaltung, aber ich bin nahezu blind und kann gerade mal hell und dunkel unterscheiden.

Trotzdem oder vielleicht sogar deshalb schnüre ich mittlerweile regelmäßig meine Laufschuhe. Denn angefangen hat das alles für mich vor einem knappen Jahr, als ich von Melanie gefragt wurde, ob ich nicht im Dezember Proband bei einer Schulung für Lauftandems sein möchte. Als Lauftandem bezeichnet man einen sehbehinderten Läufer oder Läuferin mit seinem bzw. ihrem Guide, der während des Laufens die Richtung und Hindernisse auf der Strecke ansagt. So standen wir dann auch im Bottwartal als Tandem am Start, mein Guide Daniel und ich.

Ich habe irgendwann mal aufgehört, die vielen Kilometer zu zählen, die wir in den letzten Monaten gemeinsam gelaufen sind. Entsprechend groß ist mein Vertrauen in Daniel, das in mich war an jenem Sonntag aber umso kleiner. Würde ich seine Ansagen auf der langen Strecke immer rechtzeitig umsetzen können? Jede Unachtsamkeit kann zu einem Sturz oder einem schmerzhaften Umknicken führen. Bisher waren wir immer nur auf mir bekannten Strecken unterwegs, entweder den Stammrunden des Lauftreffs oder auf Wegen, die ich ohnehin schon kannte. Alles also ein Heimspiel. Aber heute?

Alles Zaudern half nichts, denn es ging los. Die ersten Kilometer liefen gut, nach und nach schlängelten wir uns durch das enge Teilnehmerfeld unseres Startblocks nach vorne, bis die Abstände zu den anderen um uns herum immer größer wurden und wir uns auf die Strecke konzentrieren konnten. Mit jedem absolvierten Kilometer kamen in mir die entsprechenden Erinnerungen hoch. Bei Kilometer 1 sah ich mich nach der Tandemschulung am Straßenrand sitzen, völlig fertig mit der Welt im Allgemeinen und Sport im Speziellen. Kilometer 5 habe ich am ersten Weihnachtsfeiertag zum ersten Mal ohne Pause erreicht, Kilometer 10 nach knapp zwei weiteren Monaten harten Trainings. Ich war in dieser Zeit immer froh um meinen rollenden Schreibtischstuhl, denn sämtliche Laufmuskeln verweigerten nach den Läufen regelmäßig ihre Arbeit mit schmerzendem Protest. Im Vergleich zu damals passierte ich jetzt diese Kilometer mit einer gewissen Leichtigkeit, als ob ich meinem damaligen Ich sagen wollte: "Schau her, so geht das!" Beflügelt durch diesen Gedanken, lief ich zügig mit Daniel an meiner Seite durch die Dörfer und an den Verpflegungsständen vorbei weiter, immer weiter...

Natürlich habe ich mir diesen Erfolg selbst erarbeitet, denn getragen hat mich in den letzten Monaten nie jemand. Aber bei jedem einzelnen Kilometer war jemand vom Lauftreff an meiner Seite und hat mich als Guide geführt. Ohne diese Unterstützung hätten meine Ausdauer und mein Wille allein nichts gebracht. Mindestens genauso wichtig finde ich aber, dass ich von allen herzlich beim Lauftreff aufgenommen wurde und meine Behinderung außer beim Laufen selbst nie ein Thema war. Darüber bin ich dankbar und weiß das sehr zu schätzen, denn als behinderte Person ohne Vorbehalte integriert und akzeptiert zu werden, ist in unserer Gesellschaft manchmal immer noch schwierig. Ob ich dadurch nun auch an Laufveranstaltungen teilnehmen kann, ist für mich ehrlich gesagt zweitrangig, denn für mich ist diese Teilhabe nicht nur Mittel zum Zweck.

Wir liefen immer noch, mittlerweile hatten wir das Schild erreicht, das Kilometer 18 markierte. Meine großen Bedenken wegen der unbekannten Strecke hatten sich in der Zwischenzeit vollständig aufgelöst, Daniel hatte mich sicher und routiniert bis hierhergebracht. Doch während der Vorbereitung bin ich nie so weit am Stück gelaufen und jetzt schwanden langsam meine Kräfte. Ich kämpfte gegen meinen Körper und gegen den Gedanken, hier anzuhalten, mich in die Wiese zu legen und jedem, der vorbei läuft, entsprechend des bekannten Ausrufs meinen Hintern zum Lecken hin zu strecken. Aber Aufgeben war keine Option, umkehren ebenso nicht. Also doch weiter... Irgendwann erreichten wir tatsächlich Steinheim und ich hörte in der Ferne die Geräuschkulisse von Musik und viele Menschen, die immer näherkam. Oder war es doch eine akustische Fata Morgana, mehr Wunsch als Realität? Die Straße, die wir entlangliefen, schien nämlich endlos zu sein. Doch dann sagte Daniel die erlösenden Worte: "Noch 300m, dann sind wir da."

Ich bin zwar nicht mehr der Neue beim Lauftreff, komme aber trotzdem öfters und man kann mich im Tandem erleben. Vielleicht mag auch jemand einmal als Guide laufen? In diesem Fall einfach mich gerne für einen Probelauf ansprechen. Es werden auch regelmäßig Schulungen hierzu vom Verein angeboten, Ansprechpartner hierzu sind Melanie, Tamara und Jens.

Facebook